Im Bild gefasste Landschaftsräume.
Betrachtungen zu Yvette Kießlings Malerei en plein air in den Mooren bei Bremervörde.
Moore sind unwirtliche Orte von besonderer Naturbelassenheit, gleich Urwäldern in der weiten Heidelandschaft. Sie bestehen aus jahrtausendealten Pflanzenteilen und bilden Landschaftsräume von einzigartiger Spannung. Solche Orte faszinieren die Leipziger Malerin Yvette Kießling, die sich für ihre Bilder auf die Suche nach Landschaftsräumen macht, in denen sie eine besondere Aura wahrnimmt. In ihren Ölgemälden entwickelt sie Entsprechungen für die von ihr erlebte Natur. Es geht ihr darum, die von ihr empfundenen Spannungen und Harmonien eines Ortes aufzunehmen und in ihre Bildsprache zu überführen.
Die Malerin fand die Landschaftsräume, mit denen sie sich in den vergangenen Jahren auseinandersetzte, sowohl entlang europäischer Ströme, insbesondere der Elbe und des Rheins, als auch in weit entfernten Gegenden wie den tropischen Regionen der Usambara-Berge in Tansania. Nach längeren Aufenthalten dort stellen die Moorlandschaften um Bremervörde in Niedersachsen ihr jüngstes Untersuchungsgebiet dar. Entgegen den dichten, lauten Tropenlandschaften wirken die Moore in ihrer ruhigen Weite geradezu antagonistisch. Von den Mooren fühlt sie sich aufgrund von deren hohem Alter und der „verdichteten Energie“, die hier zu spüren sei, auf besondere Weise angezogen.
Yvette Kießling malt en plein air, also direkt vor der Natur, der sie sich bei Wind und Wetter aussetzt. Sämtliche im vorliegenden Katalog präsentierten Arbeiten sind unter freiem Himmel entstanden. Denn der Eindruck einer Landschaft, der die Malerin interessiert, ist derart vielgestaltig, dass er in Reproduktionen wie etwa Fotografien nicht angemessen wiedergegeben werden kann. Er geht über die visuelle Erscheinung hinaus und schließt das Wissen über den Ort – hier insbesondere die jahrtausendealte Geschichte der Pflanzen, die sich im Torf verdichten – ebenso mit ein, wie die erlebte Situation – das Tageslicht und seine Wandlungen – oder die eigene Konstitution und Verfasstheit im Moment der Begegnung mit der Natur. Zwar kann ebenso wenig die Kälte, die an verregneten Herbsttagen allmählich unter die Kleider kriecht, direkt im Bild wiedergegeben werden, wie auch die Kraniche, die sich in Schwärmen im Moor niederlassen und von Zeit zu Zeit durch lautes Rufen auf sich aufmerksam machen.
Doch sind all dies Aspekte des Landschaftseindrucks, für den die Malerin in ihren Bildern einen Ausdruck sucht. Denn es geht Yvette Kießling nie nur um eine Reproduktion der von ihr visuell wahrgenommenen landschaftlichen Situation. Sie ist nicht darauf fixiert, die konkrete Anzahl und Verortung jedes einzelnen Elementes oder dessen farbliche Ausprägung exakt zu übernehmen. Vielmehr überträgt sie das Gesehene in der Weise in ihr Bild, wie dieses es erfordert. Die Umsetzung des vorgefundenen Landschaftsraums auf dem Bildträger vergleicht die Malerin mit dem Akt der freien musikalischen Improvisation. In einem aus geklügelten System des revidierenden Farbauftrags entwickelt sie ihre Bilder sukzessiv. Aufgrund ihres besonderen Umgangs mit der Ölfarbe ist ihr ein Einfangen des Erlebnisprozesses möglich: Im Anschluss an die Anlage des Bildaufbaus addiert sie nach und nach die Bestandteile des Bildes (Pflanzen, Wolken, Himmel, Schattenflächen usw.), behält sich jedoch stets vor, diese durch Auskratzen oder Auswisc
en mit Terpentin wieder zurückzunehmen.
In diesem kontinuierlichen Prozess des Erschaffens und Zurücknehmens setzt sich Yvette Kießling der Landschaft aus und fährt fort, bis sie ihren Eindruck des Ortes auf dem Bild wiedererkennt. Teil ihres experimentell-spielerischen Malvorgangs ist der Umgang mit einer Imprimatur, einem farbigen Bildgrund, der sich in zunehmendem Maße in Yvette Kießlings Bildern finden lässt. Auf die mitunter strahlenden und lauten Farbtöne (Magenta, Orange, Violett oder Ultramarin) zu reagieren, stellt eine besondere Herausforderung im Malprozess dar. Die anfangs gewählte Untermalung kann – um im Bild der musikalischen Improvisation zu bleiben – als die Tonart des entstehenden Gemäldes beschrieben werden. Bei der Auswahl der vorbereiteten farbig gefassten Bildträger vertraut die Malerin auf ihre spontane Einschätzung bei der Betrachtung von vorgefundener Landschaft und Tagesstimmung. Es ist diese Unerschrockenheit und Spontanität in Kießlings Malerei, die auch in der Farbwahl, der schnellen Strichführung und dem großen Interesse am Material der Ölfarbe zum Ausdruck kommt, die zu der starken Dynamik führt, die ihren Gemälden innewohnt.
Die rasche Malweise spiegelt sich in verschiedenen offenen Strukturen wider. Häufig laufen die Bilder nach vorne oder zu den Seiten hin aus, wobei die Untermalung an den Rändern sichtbar bleibt und sich das Bild nach innen hin verdichtet. Hierdurch entstehen spannungsvolle Kompositionen und eine besondere Dynamik, die Kießlings malerische Interpretationen der Landschaftsräume auszeichnen. Die intensive Farbigkeit ihrer Bilder entwickelte die Malerin während ihrer Aufenthalte in Tansania, wo das Einfangen der üppigen tropischen Vegetation starke Farben verlangt. Die Bereitschaft zum Umgang mit kräftigen Farbtönen behielt sie bei und wendet diese nun zunehmend auch auf ihre nach europäischen Landschaften entwickelten Bilder an. So entstanden in den Mooren bei Bremervörde Gemälde, die auf faszinierende Weise die Stille der weiten, ruhig und einsam wirkenden Moorlandschaft in überraschenden Tönen und unerwarteter Dynamik zum Ausdruck bringen.
Oft kommt Yvette Kießling zu den Orten zurück, die sie sich einmal malerisch erschlossen hat. So entstand in den vergangenen Jahren ein Fundus an Landschaftsräumen, die Gegenstand ihrer Bilderwelt sind: die Elbquelle, die Elbmündung oder die Usambara-Berge. Auch für das Hochmoor bleibt zu hoffen, dass dies fortan eine anhalten de Bedeutung im Œuvre der Malerin spielen wird und sich zu einem Ort für eine langfristige künstlerische Auseinandersetzung entwickelt, wo Gemälde entstehen, die den Betrachtenden ein neues Verständnis für diesen einzigartigen Naturraum offenbaren können.
Benjamin Dörr (Berlin)
Dr. Benjamin Dörr ist Kunstwissenschaftler und Kunsthistoriker, Lehrbeauftragter an der FH Potsdam und freier Publizist. Seine Dissertation schrieb er über die bürgerliche Gartenkunst des Biedermeier. Durch das Einfühlen in Orte, die früher Parks waren, heute aber häufig nur noch verwilderte Naturräume sind, fühlt er sich der Malerin Yvette Kießling in ihrer Arbeitsweise verwandt.
Yvette Kießling. Schöpfen aus der Quelle
Anna Wesle
Yvette Kießling hat ihren persönlichen Kraftort gefunden. Seit 2014 beschäftigt sie sich mit der Elbquelle, Labská louka (tschechisch für Elbwiese) auf fast 1‘400 m Höhe in der Nähe des Ortes Špindleruv Mlýn (Spindlermühle) im Hochland des Riesengebirges in Tschechien.
2016 entsteht ein großformatiges Gemälde, 170 x 190 cm in Öl auf Leinwand auf Holz, betitelt als „Elbequell“. Mit lasierendem Pinselstrich sind in zarten Farben die Flächen einer Landschaft festgehalten. Eine Ebene ist im Vordergrund zu sehen, im Hintergrund verblauen angedeutete Berge vor einem cremefarbenen Himmel. Diese Ebene – die Elbwiese, aus der der Fluss entspringt, ist in einem Inkarnat, hellen Fleischton, gehalten, strukturiert mit Olivgrün und dunklen Akzenten, die zu den ovalen, weiß aufgehellten Wasserlachen hinführen. Mit Rot, Rosa und Weiß, einer weiteren, intensiveren Fleischfarbe, wird diese Ebene in ihrer Mitte vom Horizont abgegrenzt und eingezogen: Es ergibt sich ein malerischer Sog zur dunklen Zone und zu den hervorquellenden Wasserflächen hin. Die Ausstrahlung dieses Gemäldes ist sinnlich, körperlich. Sein Titel lässt lautmalerisch ohne das abschließende „e“ den weiteren Fortgang offen – so wie auch die untere Lache den Bildrand erreicht. Elbequell… Die Quelle, la source, der Ursprung, l’origine du monde – bei der christlichen Ikonografie mit symbolisch zu deutenden Quellen und Brunnen angefangen bis zum 19. Jahrhundert mit beispielsweise Jean-Auguste-Dominique Ingres‘ „La Source“ (1820-56) sowie Gustave Courbets „L’Origine du Monde“ (1866) und „La Source“ (1868) – ist ein bekanntes Thema in der Kunstgeschichte des Abendlandes. Religiös betrachtet symbolisiert die Quelle das Wunder der Schöpfung, des Heiles und des (ewigen) Lebens. Im 19. Jahrhundert handelt es sich bei Werken dieses Themas häufig um Aktdarstellungen von Najaden, Quellnymphen, an Gewässern. Diese Frauenfiguren lassen sich, neben ihrer Bedeutung in Bezug auf Fruchtbarkeit und Sexualität, auch auf Fragen der künstlerischen Schöpfung und Inspiration hin interpretieren – die bis ins 20. Jahrhundert hinein noch allein dem Mann vorbehalten zu sein schien. Weibliche Modelle und Musen dienten der Inspiration des männlichen Künstlers, sie hatten nicht selbst schöpferisch tätig zu sein. Kießling, eine Künstlerin des 21. Jahrhunderts, macht sich frei von solchen mythologischen und figürlichen Stützpfeilern, sie schöpft direkt aus ihrem landschaftlichen Motiv. Seit dem oben beschriebenen ersten Gemälde ist eine Reihe von Diptychen entstanden, die sich ebenfalls mit der Elbquelle auseinandersetzen. Ausgehend von einer Lithografie in 2 Einzelblättern (je 82 x 60 cm), die für die Griffelkunst-Vereinigung Hamburg 2016 geschaffen wurde, entstehen Übermalungen mit Ölfarbe und Ölstift auf den noch aus dem Druckprozess vorhandenen farblichen Varianten, kaschiert auf Alu-Dibond. Die Vorlage für die ursprüngliche Lithografie entstand vor Ort auf Papier – die Künstlerin sucht diesen Platz mehrmals jährlich auf und arbeitet dort „en plein air“. Die Elbquelle steht für sie für einen Ort, an dem langsames, ruhiges Arbeiten, intensives Sehen und Empfinden möglich ist. Die Energien und die reale Landschaft auch körperlich zu spüren, ist ihr wichtig – Fotografien können das nicht ersetzen. Die ursprüngliche Lithografie zeigt in gedeckten, mehrheitlich Braun-, Grün-, und Rottönen die Elbwiese im Vordergrund, eine felsigere Zone mit Nadelbäumen (Fichten und Latschenkiefern) im Mittelgrund und einen ansteigenden Berg links im Hintergrund, den Violík (Veilchenstein). Die 15 Übermalungen „Elbwiese, Labská louka“, die seit 2017 in rascher Folge entstanden sind, basieren auf dieser mehrfarbigen Tuschelithografie, lassen sie mal mehr, mal weniger durchscheinen und gehen vor allem inhaltlich weit darüber hinaus. Bisher war das Schaffen von Yvette Kießling stark von einer Auseinandersetzung mit, einer Untersuchung von Gegebenheiten an einem bestimmten Ort geprägt: Sie arbeitete in, mit und über eine bestimmte Örtlichkeit, zum Beispiel den Jozani Forest auf Sansibar, Tansania. Hier geschieht nun etwas anderes, neues: Die Elbwiese, aus der Erinnerung und persönlich festgehalten auf dem Untergrund, dient als Resonanzboden, als erregbares Nervengeflecht für die Übermalung. So, wie aus der Elbwiese die Elbe quillt, quillt aus dem Boden der Lithografie die Übermalung. Jedoch nicht von selbst – widerhallen ist nur möglich, wenn etwas hineingegeben wird. Hinein gibt sich in diesem Fall die Künstlerin – die bis heute entstandenen Diptychen sind eine Auseinandersetzung mit ihren inneren Vorgängen und Befindlichkeiten. Die Quelle inspiriert, lebt vor, regt an zur Schöpfung. Die Künstlerin reagiert, schöpft aus sich selbst heraus, gebärt. Sie schafft Abbilder ihrer Innerlichkeit, eine bildnerische Meditation mit einem sehr starken, weiblichen Selbstbezug. Suchtartig, rauschhaft, immer eines nach dem anderen entstehen die Arbeiten: „Ursprung“, „weiß“, „Plateau“, „Schlund“ (2017), „opposing“ (2018), „in die Tiefe“, „Fichten“, „Schauer“, „weiße Ebene“, „Hochland“ (2019), „Wehen“, „energie“, „Offenbarung“, „komplementär“ (2020) und „Ponge“ (2021). Dabei handelt es sich nicht um eine Serie – jedes Diptychon steht für sich und wird frisch begonnen – wobei sich durchaus Farben und thematische Ansätze von einem Werk zum nächsten weiterbewegen können. Die Zeichnung und Hervorhebung der Nadelbäume und des Berges variieren über die Anzahl der Arbeiten. Jedes Diptychon ist eine überlegte, sorgfältige Konstruktion mit gestalterischen und inhaltlichen Schwerpunkten, die sich ansatzweise und doch offen in den gewählten Einzeltiteln abzeichnen. Die aus „Elbequell“ vertraute intensive Fleischfarbigkeit, die eine Übersetzung der blühenden Erika der Gegend ist, wird in den Werken von 2017 wieder verwendet und erreicht in „Schlund“ einen dramatischen Höhepunkt. Abgründige Fantasien über Entstehung und Vernichtung, Leben und Tod, bedrohliche Gegensätze wurden hier herausgearbeitet. Dem Fließenden, sich stets Erneuernden steht eben auch das potentiell Unheilbringende, das Unkontrollierbare gegenüber. 2019 gewinnt ein starkes Blau an Bedeutung. Es wird in mehreren Diptychen eingesetzt, bis Weiß und Rot wieder die Führung übernehmen. Bei „weiße Ebene“ scheint die Quelle, das Energiezentrum plötzlich weit weg gerückt zu sein – von einem luftig erhabenen Standpunkt herab schaut die Betrachtende in eine einsame, gedeckte Weite. Dieses Diptychon weist die größte Freiheit und Leere von allen bisher entstandenen auf. Zyklusartig ist bei „Hochland“ das Rot wieder zurück, das sich bei „energie“ in Form von Karmin- und Orangerot kraftvoll aus dem Blau heraus Bahn bricht. Extrovertiert findet hier ein großflächiges Befreien statt, das auch malerisch durch große, mit Terpentin abgelöste Partien sichtbar wird. In „opposing“ und „komplementär“ lotet Kießling zeichnerische, malerische und farbliche Gegensätze aus. Als – bisher nicht abgeschlossene – Reihe betrachtet, fällt auf, wie sich die Künstlerin vom vorgegebenen Untergrund (der ebenfalls variiert, die verwendeten Zufallsdrucke sind nicht alle gleich) inhaltlich und technisch befreit. Als Ankerpunkte tauchen zwar immer wieder der Bergkegel und die Nadelbäume auf, die Ebenen der Landschaft und der Einsatz der malerischen Mittel werden jedoch frei gehandhabt. Nachdem anfangs noch viel von der Lithografie zu sehen ist und die Künstlerin stärker zeichnerisch, kolorierend, aufbauend arbeitet, gesellt sich später zur mit dem Pinsel aufgetragenen Farbe noch Öl in Stiftform hinzu, der Farbauftrag wird gestischer, pastoser und teilweise gespachtelt. Kießling beginnt, punktuell Farbe mit einem terpentingetränkten Lappen wieder abzuwaschen, kratzt mit einem Skalpell Farbe vom Papier, ritzt und schabt, wird immer expressiver. Im Grunde genommen werden an den Diptychen allgemeingültige Stimmungen, innere Verfassungen und Zustände, Elementares aus dem menschlichen Inneren mit den Mitteln der Farbe und der Form durchdekliniert.
Yvette Kießling hat ihren persönlichen Kraftort, ihre Quelle der schöpferischen Inspiration gefunden – in sich selbst. Mit den Elbwiese-Diptychen eröffnet sie uns Betrachtenden eine Möglichkeit, daran teilzuhaben und uns selbst darin wiederzufinden.
Verdichtungen
Yvette Kießlings Sujet ist die Landschaft, die sie am liebsten direkt vor Ort malt und zeichnet. Um sich einer Landschaft malerisch annähern zu können, muss die Künstlerin zunächst ein Teil dessen werden, was sie schließlich zu einem Gemälde verdichten wird. Ihr Blick wird dabei von allen Sinnen genährt, und topographische Besonderheiten werden unmittelbar physisch erfahrbar, wenn sie ihr Mal- und Zeichenmaterial in unwegsame Regionen trägt oder sogar 30 kg schwere Lithosteine auf wackeligen Booten bearbeitet. War es zunächst die Auseinandersetzung mit der heimischen Landschaft um Leipzig oder dem Riesengebirge und dem Verlauf der Elbe, so malte sie in den letzten Jahren auch wiederholt in Nordafrika und in Vietnam. Ein befreundetes Sammlerpaar lädt Yvette Kießling 2016 nach Sansibar ein. Fasziniert vom Licht und den Farben und Formen der Natur sowie vom Reichtum der Ornamente in dem ostafrikanischen Inselstaat, rüstet sie sich zwei Jahre später mit einer Feldstaffelei, Leinwänden, Papier und Zinkplatten aus, um auch in Sansibar vor Ort arbeiten zu können. Der riesige „Urwald“ Jozani Forest im Zentrum der Insel zieht sie besonders in ihren Bann. Er erweist sich als verwilderter Mahagoni-Kulturwald, den einst die englischen Kolonialherren an gepflanzt hatten. Sich selbst und dem tropischen Klima überlassen, erscheint er heute exotisch wild, mit üppiger Fauna und Flora und eigener Affenart. Die Künstlerin malt und zeichnet vor Ort, und sie ritzt, sticht und schraffiert in die mitgebrachten Zinkplatten.Sieben dieser Motive lässt sie später in Leipzig als Radierungen drucken, die dieser Mappe beiliegen. Fünf ihrer Zeichnungen aus dem Jozani Forest überträgt sie bei dem Leipziger Steindrucker Thomas Franke auf Lithosteine; ineinander verwobene Mangroven und blühende indische Mandelbäume, darunter auch ein Bildnis ihres täglich gemalten männlichen Modells, der dem Betrachter stolz frontal gegenüber tritt. Im Hauptberuf Barkeeper ihres Hotels, wird der Mann im Bild zu einer würdevoll archaischen Figur. Um das Überbordende,Undurchdringliche und visuell kaum Erfassbare des verwilderten Waldes zu zeigen, revolutioniert sie ihre Drucktechnik. Sie lässt nicht nur ein Motiv von einem Lithostein drucken, sondern zumeist mehrere der fünf Motive in immer anderen Farb- und Formvarianten übereinandersetzen. Beim Trocknen jeder Schicht entscheidet sie über die nächste Auswahl an zu druckenden Steinen und die jeweiligen Farben. In bis zu acht Druckgängen verdichtet sich dabei der Blick in den Wald bis ins Undurchdringliche. So entstehen 100 Unikat-Drucke in immer neuen, ungesehenen Kompositionen. Fünf Variationen davon stellt sie für jede Mappe zusammen.Ergänzt werden die Radierungen und Lithographien von einer abstrakten Toncollage auf CD, für die sie Fledermauspfeifen, Vogelgezwitscher, sich aneinander reibende Bäume, Stimmen und allerlei andere Geräusche der Insel zusammenmontiert hat. Mit dieser außergewöhnlichen Kombination gelingt Yvette Kießling eine ganz besondere künstlerische Verdichtung ihrer Sinneseindrücke Sansibars.
Dirk Dobke
Unbändiges Sehen – Weite ausloten – Offenem habhaft werden
Ein Zugang zum Schaffen von Yvette Kießling kann sein, übers Unbändige nachzudenken. Ihre Werke sind fortdauernde Auseinandersetzung mit unbändiger Umwelt, auch der menschgemachten – nicht, um Natur zu bändigen, zu zähmen, aufzuräumen. Ihre Arbeiten im Freien sind keine bildhafte Inbesitznahme, es geht in ihnen nicht um nachträgliche Ordnung. Vielmehr eröffnen sie Wege ins Dickicht.
Yvette Kießlings Arbeit folgt dem Wechsel von drinnen und draußen, hinaus ins Freie und hinein ins Atelier. In dieser Austauschbewegung kehrt sie immer wieder zurück zu einem konkreten Stück Welt – wenn die Rückkehr verwehrt ist, bleibt die Sehnsucht danach. Abseits des Idyllisch-Malerischen ist das Pleinair für Yvette Kießling die notwendige, letztlich natürliche Arbeitsweise. Im Aufsuchen von Plätzen hat sich eine persönliche Landkarte an Schaffensorten ergeben.
Nicht Programm oder Credo leiten diese Dynamik, sie lebt eher von der Spannung zwischen ortskonkretem Eindruck und schaffendem Ausbauen, Umarbeiten, Weiterarbeiten. Dies übersetzt sich in die Wahl der darstellerischen Techniken und Mittel – Radierung und Zeichnung, Öl auf Leinwand auf Holz, mehrfarbige Tuschelithografie, Übermalung in Öl auf Aludibond. Der flexible, sich aus dem Arbeitsprozess ergebende Medienwechsel wird zum Modus künstlerischer Anverwandlung.
Die Malerei und grafische Arbeit von Yvette Kießling ist ein offenes Unterfangen; dies erklärt auch das Zurückkehren an schon bildbekannte Orte, ihr wiederkehrendes Beschauen. Sie finden keinen Abschluss, schon weil Landschaft, Himmel, Pflanze und Meer und Fluss und Berg selber in Veränderung sind und von Yvette Kießling im fortlaufenden Arbeiten immerzu neu und anders erlebt und gesehen werden müssen. In ihren Werken stehen uns keine Landschaftsporträts gegenüber, sondern die Beschäftigung mit den Eigenarten eines Platzes in der Welt: tropischer Wuchs auf Sansibar oder Thailand; die Elbequelle arm an Bewuchs; weites Land und großer Himmel der Nordsee. Vor Ort sind Perspektive und Ausschnitte weder bewusst zufällig noch komplexe Kalkulation – sie ergeben sich, werden stimmig mit jedem Bild. Die Werke von Yvette Kießling sind oft farbengeflutet, sie lösen sich von lokalen Lichtstimmungen und vorgefundenen Farbgebungen. Ihre Opulenz zeugt von überbordendem Wachstum, von Heftigkeit und Überfluss.
Die Traditionen dieses Schaffens sind lang, wenngleich derlei Referenzen nicht Kießlings Thema sind. Es gibt vielleicht Echos von Jacob van Ruisdael, von Caspar David Friedrich, von William Turner und Henri Rousseau. Inspiration jedoch ist letztlich unverfügbar, sie kommt weder nur von außen noch entspringt sie nur im Inneren. Sie kommt, so ließe sich sagen, dann zum Ausdruck, wenn Yvette Kießling angesichts von Situationen ins Malen kommt. Sie ist Zusammenspiel von Vorgefundenem, Eigensinn und der ihr zuhandenen künstlerischen Mittel: Intuition und Inspiration als Wechselspiel.
Wenn sie in Reihe arbeitet, verfolgt sie nicht die Vervielfältigung von Motiven. Doch jedes Einzelstück eröffnet Bildmuster, die wiederum neue Permutationen anstoßen. Es ist bildnerisches Weiterdenken und Weitersehen, methodisch und reflektiert. Werk für Werk, oft in Reihe, geht es ums unabgeschlossene Habhaftwerden von Formmerkmalen und Farbstrukturen. Szenerien variieren in Blickpunkten, ohne dass die Bilder mit ihnen fertig sind. Sie sind immer neue Ansätze, ohne nebeneinander zum Spiegel eines Ortes zu werden. Jedes Unikat geht ins nächste – das Unbändige wächst ins Werk.
Christian Pentzold
Prof. Dr. Christian Pentzold ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Leipzig und Ko-Direktor des Center for Digital Participation.
Verwehrte Wege: Der Tropenzyklus Sansibar
Yvette Kießling ist Malerin. Und doch hat sie sich in den letzten zehn Jahren auch intensiv mit den gestalterischen Möglichkeiten der grafischen Künste beschäftigt. Aus diesem parallelen Arbeiten und dem Eintauchen von einem ins andere Medium haben sich bemerkenswerte Wechselwirkungen ergeben, die in den letzten Jahren insbesondere anhand ihrer Bildfolgen von Flussläufen und zuletzt des Sansibar-Zyklus 2017 – 2018 sichtbar geworden sind. Charakteristisch ist für Kießlings Schaffen, dass sie mit ihrer Kunst in einer Bildtradition steht, die sich zwischen 1850 und 1900 entwickelt hat. Um 1900 wurden in den grafischen Künsten die Schnitt-, Kratzund Ätztechniken von den Künstlern mit großem Erfolg wiederentdeckt, unter anderem im Expressionismus. Sie leiteten eine vertiefte künstlerische Beziehung mit der Natur ein, die zuvor die Impressionisten mit ihrer Pleinairmalerei entdeckt hatten. Wassily Kandinsky hob besonders die Farblithografie mit ihrem spontanen Duktus und Farbenreichtum gegenüber dem Linol- oder Holzschnitt als eine Technik hervor, die der pastosen Malerei und zugleich der direkten Zeichnung am nächsten stehe. Gleichzeitig ist die Künstlerin in der Gegenwart verwurzelt, wenn sie etwa die nachmoderne Konstruiertheit ihrer Bildideen herausstellt. Ein gutes Beispiel ist ihr aktueller Sansibar-Zyklus, in dem sie eine neue Bildsprache findet, um unmittelbares Naturerlebnis mit kalkulierten Bildverfahren zu verbinden. Yvette Kießling drängt es immer wieder dazu, vor und in der Natur zu malen. Dazu begibt sie sich mitten in ihre Sujets. Während sie ein bestimmtes Thema oder Motiv verfolgt, bleibt sie in ihren künstlerischen Ausführungen keinem System oder Plan unterworfen. Die Umgebung gibt den Rhythmus vor. Als Betrachter hat man den Eindruck, dass sie während des Malprozesses die Dynamik wechselt: Pinselstriche gehen mal wie grobe Peitschenhiebe durchs Bild, die auf halbem Weg stehen bleiben. Dann sind es genau gesetzte, federartige und strahlenförmige Linienbündel, die Blatt, Pflanze oder Baum definieren. Ihr offenes System malerischer Strukturen geht dem nach, was vor ihr ist: etwas, das sich zunächst als ungeordnete Gemengelage von dunkler, schwerer Erde und grüner, sich im Wind und Licht wiegender schillernder Pflanzen und Bäume unter kaum sichtbarem Himmel zeigt. Gleich einer Entdeckerin sucht die Malerin bildlich eine Bahn durch quer liegende Pflanzen, aufragende Äste und Wurzeln zu ziehen und baut eine Spannung zwischen dem Dickicht der tropischen Natur und den hellen Schneisen auf, die lange Lichtstrahlen ins Halbdunkel schneiden. Den Ausgangspunkt dieser gemalten Werke bilden grafische Arbeiten. Der Jozani Forest, ein auf der Insel Sansibar verbliebener natürlicher Regenwald aus Mangrovenbäumen, Palmen und Farnen, inspirierte Yvette Kießling zu einem grafischen Projekt, das im Zuge ihrer beiden Aufenthalte auf Sansibar entstand. Auf Radierungen folgen erste Farblithografien. 2018 entwickelte sie den Grafikzyklus Sansibar mit 100 Unikatdrucken, der gewissermaßen, so erklärt sie, als Motivpool gestalterischer Möglichkeiten für die Malerei dient. Die zunächst durch den Tuschepinsel spontane, dann im Steindruck langsame Entstehung eines Blatts in Etappen gewinnt erst im Druckverfahren ihre ungewöhnliche Dynamik. Durch das Übereinanderdrucken von bis zu fünf Schichten in verschiedenen Farben erreicht die Künstlerin einen Grad der motivischen Verschränkung, der ihrem Sujet „Regenwald“ auf schon fast ironische Weise gerecht wird. Denn die ostafrikanische Tropenwelt, die gar als Wiege der Menschheit gilt, ist in ihrem Kern brüchig geworden. Der Urwald mit dem sogenannten edlen Wilden existierte schon zu Gauguins Zeiten nicht mehr. Auch Sansibar kann nicht mehr als unangetastetes Paradies erlebt oder als Thoreaus „Walden“ interpretiert werden. Die Tropen sind einer geschützten, kulturhistorisch konstruierten Parklandschaft gewichen, die die Schlacken ihrer vielschichtigen Vergangenheit – Mythen, durchreisende Völker, Kolonialmächte, Zuwanderung und nicht zuletzt radikale Umwelteingriffe – mitführt. Indem Yvette Kießling in der Lithografie zahlreiche Kombinationen der Motive durchspielt und sich dabei immer wieder selbst an die Grenze des bildnerisch Möglichen bringt, greift sie dieses historisch multiple, ambivalente Konstrukt der tropischen Natur auf. In ihrer Malerei stellt sie dieses explizit antiklassische Naturbild, das sich dem Betrachter nicht bereitwillig öffnen möchte, sondern sich seiner Wahrnehmung eher verschließt, sogar noch mehr heraus. Häufig erscheint der dargestellte Weg mit seinem feuchten Morast unpassierbar, den Betrachtern stellen sich Pflanzen in den Weg, ist der Durchblick zum Himmel verwehrt, sodass Braun, Grün und Rot eine gitterartige Wand bilden, die in manchen Werken keine optische Orientierung nach Oben oder Unten mehr kennt. Das generelle Thema in ihren Sansibar-Arbeiten, so zeigt sich, ist ein Naturbild, das sich gegen den befreienden Durchblick stemmt: Vor dem Blick türmt sich ein unüberschaubares Gelände, Dickicht, Gestrüpp auf, das sich zu einer zwar dichten, jedoch koloristisch sehr differenzierten Mauer aus über einem Dutzend Grüntönen aufbaut. Die Undurchdringlichkeit des Urwaldes und die Unerschöpflichkeit seiner Grüntöne faszinierten bereits Maler wie Maurice de Vlaminck, Henri Rousseau oder aktuell Peter Doig und Anthony Gross, der für die Londoner Underground 2015 einen wuchernden digitalen Urwald schuf. In den ausgreifenden Armen der ungebremst wachsenden, farbintensiven Tropenpflanzen ist sowohl die Zuversicht als vielleicht auch die leise Drohung enthalten, dass diese die menschliche Zivilisation, den Großstadtdschungel, letztendlich überdauern werden.
Dr. Viola Weigel, Leiterin der Kunsthalle Wilhelmshaven
Im Bild gefasste Landschaftsräume.
Betrachtungen zu Yvette Kießlings Malerei en plein air in den Mooren bei Bremervörde.
Moore sind unwirtliche Orte von besonderer Naturbelassenheit, gleich Urwäldern in der weiten Heidelandschaft. Sie bestehen aus jahrtausendealten Pflanzenteilen und bilden Landschaftsräume von einzigartiger Spannung. Solche Orte faszinieren die Leipziger Malerin Yvette Kießling, die sich für ihre Bilder auf die Suche nach Landschaftsräumen macht, in denen sie eine besondere Aura wahrnimmt. In ihren Ölgemälden entwickelt sie Entsprechungen für die von ihr erlebte Natur. Es geht ihr darum, die von ihr empfundenen Spannungen und Harmonien eines Ortes aufzunehmen und in ihre Bildsprache zu überführen.
Die Malerin fand die Landschaftsräume, mit denen sie sich in den vergangenen Jahren auseinandersetzte, sowohl entlang europäischer Ströme, insbesondere der Elbe und des Rheins, als auch in weit entfernten Gegenden wie den tropischen Regionen der Usambara-Berge in Tansania. Nach längeren Aufenthalten dort stellen die Moorlandschaften um Bremervörde in Niedersachsen ihr jüngstes Untersuchungsgebiet dar. Entgegen den dichten, lauten Tropenlandschaften wirken die Moore in ihrer ruhigen Weite geradezu antagonistisch. Von den Mooren fühlt sie sich aufgrund von deren hohem Alter und der „verdichteten Energie“, die hier zu spüren sei, auf besondere Weise angezogen.
Yvette Kießling malt en plein air, also direkt vor der Natur, der sie sich bei Wind und Wetter aussetzt. Sämtliche im vorliegenden Katalog präsentierten Arbeiten sind unter freiem Himmel entstanden. Denn der Eindruck einer Landschaft, der die Malerin interessiert, ist derart vielgestaltig, dass er in Reproduktionen wie etwa Fotografien nicht angemessen wiedergegeben werden kann. Er geht über die visuelle Erscheinung hinaus und schließt das Wissen über den Ort – hier insbesondere die jahrtausendealte Geschichte der Pflanzen, die sich im Torf verdichten – ebenso mit ein, wie die erlebte Situation – das Tageslicht und seine Wandlungen – oder die eigene Konstitution und Verfasstheit im Moment der Begegnung mit der Natur. Zwar kann ebenso wenig die Kälte, die an verregneten Herbsttagen allmählich unter die Kleider kriecht, direkt im Bild wiedergegeben werden, wie auch die Kraniche, die sich in Schwärmen im Moor niederlassen und von Zeit zu Zeit durch lautes Rufen auf sich aufmerksam machen.
Doch sind all dies Aspekte des Landschaftseindrucks, für den die Malerin in ihren Bildern einen Ausdruck sucht. Denn es geht Yvette Kießling nie nur um eine Reproduktion der von ihr visuell wahrgenommenen landschaftlichen Situation. Sie ist nicht darauf fixiert, die konkrete Anzahl und Verortung jedes einzelnen Elementes oder dessen farbliche Ausprägung exakt zu übernehmen. Vielmehr überträgt sie das Gesehene in der Weise in ihr Bild, wie dieses es erfordert. Die Umsetzung des vorgefundenen Landschaftsraums auf dem Bildträger vergleicht die Malerin mit dem Akt der freien musikalischen Improvisation. In einem aus geklügelten System des revidierenden Farbauftrags entwickelt sie ihre Bilder sukzessiv. Aufgrund ihres besonderen Umgangs mit der Ölfarbe ist ihr ein Einfangen des Erlebnisprozesses möglich: Im Anschluss an die Anlage des Bildaufbaus addiert sie nach und nach die Bestandteile des Bildes (Pflanzen, Wolken, Himmel, Schattenflächen usw.), behält sich jedoch stets vor, diese durch Auskratzen oder Auswischen mit Terpentin wieder zurückzunehmen.
In diesem kontinuierlichen Prozess des Erschaffens und Zurücknehmens setzt sich Yvette Kießling der Landschaft aus und fährt fort, bis sie ihren Eindruck des Ortes auf dem Bild wiedererkennt. Teil ihres experimentell-spielerischen Malvorgangs ist der Umgang mit einer Imprimatur, einem farbigen Bildgrund, der sich in zunehmendem Maße in Yvette Kießlings Bildern finden lässt. Auf die mitunter strahlenden und lauten Farbtöne (Magenta, Orange, Violett oder Ultramarin) zu reagieren, stellt eine besondere Herausforderung im Malprozess dar. Die anfangs gewählte Untermalung kann – um im Bild der musikalischen Improvisation zu bleiben – als die Tonart des entstehenden Gemäldes beschrieben werden. Bei der Auswahl der vorbereiteten farbig gefassten Bildträger vertraut die Malerin auf ihre spontane Einschätzung bei der Betrachtung von vorgefundener Landschaft und Tagesstimmung. Es ist diese Unerschrockenheit und Spontanität in Kießlings Malerei, die auch in der Farbwahl, der schnellen Strichführung und dem großen Interesse am Material der Ölfarbe zum Ausdruck kommt, die zu der starken Dynamik führt, die ihren Gemälden innewohnt.
Die rasche Malweise spiegelt sich in verschiedenen offenen Strukturen wider. Häufig laufen die Bilder nach vorne oder zu den Seiten hin aus, wobei die Untermalung an den Rändern sichtbar bleibt und sich das Bild nach innen hin verdichtet. Hierdurch entstehen spannungsvolle Kompositionen und eine besondere Dynamik, die Kießlings malerische Interpretationen der Landschaftsräume auszeichnen. Die intensive Farbigkeit ihrer Bilder entwickelte die Malerin während ihrer Aufenthalte in Tansania, wo das Einfangen der üppigen tropischen Vegetation starke Farben verlangt. Die Bereitschaft zum Umgang mit kräftigen Farbtönen behielt sie bei und wendet diese nun zunehmend auch auf ihre nach europäischen Landschaften entwickelten Bilder an. So entstanden in den Mooren bei Bremervörde Gemälde, die auf faszinierende Weise die Stille der weiten, ruhig und einsam wirkenden Moorlandschaft in überraschenden Tönen und unerwarteter Dynamik zum Ausdruck bringen.
Oft kommt Yvette Kießling zu den Orten zurück, die sie sich einmal malerisch erschlossen hat. So entstand in den vergangenen Jahren ein Fundus an Landschaftsräumen, die Gegenstand ihrer Bilderwelt sind: die Elbquelle, die Elbmündung oder die Usambara-Berge. Auch für das Hochmoor bleibt zu hoffen, dass dies fortan eine anhalten de Bedeutung im Œuvre der Malerin spielen wird und sich zu einem Ort für eine langfristige künstlerische Auseinandersetzung entwickelt, wo Gemälde entstehen, die den Betrachtenden ein neues Verständnis für diesen einzigartigen Naturraum offenbaren können.
Benjamin Dörr (Berlin)
Dr. Benjamin Dörr ist Kunstwissenschaftler und Kunsthistoriker, Lehrbeauftragter an der FH Potsdam und freier Publizist. Seine Dissertation schrieb er über die bürgerliche Gartenkunst des Biedermeier. Durch das Einfühlen in Orte, die früher Parks waren, heute aber häufig nur noch verwilderte Naturräume sind, fühlt er sich der Malerin Yvette Kießling in ihrer Arbeitsweise verwandt.
Es fängt mit einer Unschärfe an. Die Farbflecken und -spritzer dokumentieren ein Vorantasten auf der Leinwand und bereiten ein Paradox vor, das im Resultat auf Yvettes Bildern zu erleben ist. Dieses Paradox gibt jedem Bild seine besondere Qualität und lässt sich am ehesten aus ihrer Arbeitsweise ableiten. Die gespannte Aufmerksamkeit beim Schütten der Farbe und das Erlebnis des Zeichnens in der Landschaft oder vor dem Modell nähren hierbei maßgeblich den Malprozess. Auf der einen Seite betont Yvette die Farbe als Material, indem sie auf jegliche Nachahmung verzichtet und die visuelle Intensität der Farbe unterstreicht. Auf der anderen Seite benutzt sie Farbe aber auch, um die Gegenstände im Bild zu färben und dadurch gegenständliche Inseln zu schaffen. Hier tauchen Menschen, Tiere und Vegetation vor einem diffusen Untergrund auf. Die Synthese findet immer im Atelier statt. Gegenständliches (Ähnliches) trifft auf Ungegenständliches (Unähnliches). Es stellt sich dadurch eine bemerkenswerte Erfahrung vorm Bild ein. Anstatt sich zu entfernen, so wie sich eine klassische Landschaft hinter dem „Fenster“ ihres Rahmens meist verliert, nähert sich das Auge des Betrachters und wird berührt und verwirrt. Das Material der Farbe wird in den Vordergrund gerückt und lässt, zunächst unabhängig von dem, was es abbildet, von einem unsichtbaren Bild träumen. Yvettes Bilder zielen anstatt auf Repräsentation immer auf Präsenz. Der Betrachter übernimmt das Ruder, eröffnet das Spiel der Assoziationen und findet sich selbst wieder mittendrin im wilden Ufer.
Matthias Weischer, 2012
Kabinettstücke
Yvette Kiessling überrascht mit ihren kleinen Landschaftsbildern durch eine eigenwillige Handschrift und die Bevorzugung kleiner Formate (die meisten der Arbeiten messen 16×20 cm). Ihre Motive sind so alt wie die Erde: Fluss, Meer, Gebirge, Gletscher, Wald, Wolken. Diese Urformen der Natur wurden in der Geschichte der Landschaftsmalerei mit Pathos aufgeladen. Hiervon ist in den Bildern nur noch ein ferner Nachhall zu spüren. Die Uferböschungen, Baumreihen oder Flussläufe bieten keine heroischen oder romantischen Anblicke. Vereinzelt taucht ein Fabrikschornstein oder eine Lagerhalle auf. Ein Wasserfall wird zum blauen Farbstreifen, der wie ein abstraktes Zeichen vertikal in der Mitte des Bildes steht. Auf einem anderen Bild fließt der Fluss nicht blau, sondern leuchtend weiß. Diese Umformungen und Verfremdungen gehen fast unauffällig vonstatten.
Was die Malerin interessiert, ist das Bild an sich. Dafür sammelt sie Landschaften, in denen sie oft zeichnend unterwegs ist, als Material. Ihre Zeichnungen sind noch detailliert, topografisch präzise und kleinteilig. In den Gemälden zeigt sich dann statt penibler Aufzählung von Einzelheiten eine summarische Behandlung von Formen und Flächen. Kein Grashalm, keine Wiese, sondern Flecken in Grün-, Braun-, Blau- oder Weißtönen bestimmen die erdige Wirkung. Die ruhende Zuständlichkeit einer Gegend (oft in horizontbetonten Querformaten) wird in tachistischer Auflösung kombiniert. Schweres und Leichtes vermischen sich in Wolkenformationen. Das Bild der Landschaft gerät von innen in Bewegung. Durch eine skizzenhafte Malweise, oft mit dünnflüssig aufgetragenen Farben, und eine willkürliche Lichtgestaltung versucht die Künstlerin die Lebendigkeit, die sie in Landschaften wahrnimmt, in das Bild zu übertragen. Die schwingenden Bewegungen des Pinsels bleiben als Spuren erkennbar. Da die Gemälde im Atelier entstehen, gewinnt die spontane Niederschrift den Vorrang. Nicht mehr die Landschaft ist nun das Thema, sondern etwa das Aufsteigen oder Herabsinken von Linien, der Rhythmus ihrer Bewegungen, das Nebeneinander von Farben, das Licht oder das Wechselspiel von Flächigkeit und Tiefe. Die Freiheit einer Abstraktion, die auf das gegenständlich Gegebene zurückgreift und sich gleichzeitig davon löst, verleiht den Bildern Spannung und Reiz.
Yvette Kiessling überrascht mit ihren kleinen Landschaftsbildern durch eine eigenwillige Handschrift und die Bevorzugung kleiner Formate (die meisten der Arbeiten messen 16×20 cm). Ihre Motive sind so alt wie die Erde: Fluss, Meer, Gebirge, Gletscher, Wald, Wolken. Diese Urformen der Natur wurden in der Geschichte der Landschaftsmalerei mit Pathos aufgeladen. Hiervon ist in den Bildern nur noch ein ferner Nachhall zu spüren. Die Uferböschungen, Baumreihen oder Flussläufe bieten keine heroischen oder romantischen Anblicke. Vereinzelt taucht ein Fabrikschornstein oder eine Lagerhalle auf. Ein Wasserfall wird zum blauen Farbstreifen, der wie ein abstraktes Zeichen vertikal in der Mitte des Bildes steht. Auf einem anderen Bild fließt der Fluss nicht blau, sondern leuchtend weiß. Diese Umformungen und Verfremdungen gehen fast unauffällig vonstatten.
Was die Malerin interessiert, ist das Bild an sich. Dafür sammelt sie Landschaften, in denen sie oft zeichnend unterwegs ist, als Material. Ihre Zeichnungen sind noch detailliert, topografisch präzise und kleinteilig. In den Gemälden zeigt sich dann statt penibler Aufzählung von Einzelheiten eine summarische Behandlung von Formen und Flächen. Kein Grashalm, keine Wiese, sondern Flecken in Grün-, Braun-, Blau- oder Weißtönen bestimmen die erdige Wirkung. Die ruhende Zuständlichkeit einer Gegend (oft in horizontbetonten Querformaten) wird in tachistischer Auflösung kombiniert. Schweres und Leichtes vermischen sich in Wolkenformationen. Das Bild der Landschaft gerät von innen in Bewegung. Durch eine skizzenhafte Malweise, oft mit dünnflüssig aufgetragenen Farben, und eine willkürliche Lichtgestaltung versucht die Künstlerin die Lebendigkeit, die sie in Landschaften wahrnimmt, in das Bild zu übertragen. Die schwingenden Bewegungen des Pinsels bleiben als Spuren erkennbar. Da die Gemälde im Atelier entstehen, gewinnt die spontane Niederschrift den Vorrang. Nicht mehr die Landschaft ist nun das Thema, sondern etwa das Aufsteigen oder Herabsinken von Linien, der Rhythmus ihrer Bewegungen, das Nebeneinander von Farben, das Licht oder das Wechselspiel von Flächigkeit und Tiefe. Die Freiheit einer Abstraktion, die auf das gegenständlich Gegebene zurückgreift und sich gleichzeitig davon löst, verleiht den Bildern Spannung und Reiz.
Dr. Jan Nicolaisen, Museum der Bildenden Künste, Leipzig